aus dem Gespräch über "Dantons Tod" von Georg Büchner

Zwischen den beiden Herbstsitzungen 1976 der AG Dramatik ereignet sich Biermanns Kölner Konzert mit seinen unmittelbaren Konsequenzen. Am 21.12.1976, Hacks' "Neues von Biermann" war in der "Weltbühne" grade erschienen, treffen sich die Herren Baierl, Hacks, Kerndl, Kohlhaase, Rücker und Mittenzwei und als Mitarbeiterin der Sektion Frau Dr. Pick zum Gespräch über Büchners "Dantons Tod". Entlang Rückers Eingangsreferat behandeln sie zunächst den historischen Danton, hierauf Büchner, seine Zeit und die Parallele zwischen der Julirevolution und der Phase der Französischen Revolution, in der "Dantons Tod" spielt, und schließlich das Stück als Theaterstück / die Theaterfähigkeit des Stücks.

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PETER HACKS
Meine Frage ist, was sind die dramaturgischen Qualitäten oder Nichtqualitäten, also, [...], worin liegt der Grund, daß der "Danton" in der Theatergeschichte bekannt ist als das Stück, das immer durchfällt? Vielleicht kann man es auch begründen, warum es nicht durchfallen müßte. Aber ich frage ernsthaft - wir reden vom Theaterstück -, wie ist das gemacht?

GÜNTHER RÜCKER
Die wundeste Stelle!

HACKS
Na, wir hatten schon ganz schön wunde, oder?

RÜCKER
Weil es hier sozusagen an die Ehre des Dichters geht, an seine tiefste Substanz. Wenn man Stück um Stück verfolgt, ist es richtig ein nicht gut geschriebenes Stück im Sinne eines Theaterstücks von vier Akten.

HACKS
Alle schlechten Stücke haben vier Akte.

RÜCKER
Es fängt in einer Situation an. Entwicklung gibt es gar nicht. Der Zustand ist fixiert. Danton ist eine Reliquie, und das bleibt, und nun wird abgehandelt, bis der letzte Schritt getan wird. Es wird von ihm selbst als Figur nichts geliefert, es wird seine Vorgeschichte nicht geliefert, es wird seine Entwicklung dahin nicht gebracht. Es wird sein Zustand, in dem er sich befindet, abgehandelt und nicht nur im letzten [Akt], sondern auch schon vorher. Er prophezeit etwas, und dann tritt es ein. Immer zu Beginn eines Aktes eigentlich prophezeit er, was passieren wird. Er täuscht sich nur einmal: Er sagt, sie werden es nicht machen, dann machen sie es doch.

HACKS
Das ist ein schöner Punkt.

RÜCKER
Dramatisch gesehen...

HACKS
Nun, sie werden es nicht wagen, ist ein Zitat aus der französischen Revolution, aber wäre in einem dramaturgischen großen Einfall natürlich umsetzbar.

WOLFGANG KOHLHAASE
Es ist gut geschrieben, nur, es ist kein gutes Stück. Da sehe ich keinen Widerspruch. Mich interessiert das Stück sprachlich, mich interessiert das Stück in einzelnen Szenen, mich interessiert das Stück im Atmosphärischen, auch in der Haltung. Es hat aber zum Beispiel gar nicht, was eine gute Geschichte braucht. Es hat keine Vorgeschichte und sämtliche Personen handeln eigentlich aus dem Stand und kommen aus diesem Stand auch nicht so recht heraus. Was die Spielbarkeit betrifft, und daß eine Geschichte sich erzählt, also es ist kein Stück, was man - gute Stücke kann man schlecht inszenieren, dieses Stück, ich weiß nicht, ob man es inszenieren kann - schlecht kann man es überhaupt nicht inszenieren, denn dann bricht es nach jeder Richtung hin auseinander. Ich glaube nicht, daß es ein gutes Stück ist. Die Betonung liegt auf Stück.

HACKS
Danach habe ich jetzt gefragt. Mittenzwei!

WERNER MITTENZWEI
Was Rücker sagt, das Stück ist ohne Bewegung, statisch, dem stimme ich hundertprozentig zu. Ich meine nur, es kann aber gar nicht anders sein. Gerade das, was die Genialität des Stückes ausmacht, nämlich die wesentliche Erkenntnis der Revolution, auf die ich dann noch zu sprechen kommen will, zwingt zu dieser Dramaturgie und damit auch, wenn ich so sagen darf, zu einem schlechten Stück. Ich bin nicht der Meinung, daß die Bewegungslosigkeit eine Talenteigenschaft des Autors Büchner ist.

HACKS
Sie sind ein bißchen dialektisch mit der Frage, wenn ich mich ganz subjektiv äußern darf. Eine Eigentümlichkeit von Büchners Stücken ist, daß die Antagonisten sich nicht treffen. In "Dantons Tod" gibt es eine Robespierre-Szene, von der ich glaube, es lohnte sich, sie zu analysieren. Das ist am Ende des ersten Aktes, also dort wo eine Ausgangspositionszene [hingehört]. Diese Szene exponiert nämlich das, was Kohlhaase sagt, den Zustand, auf dem das Stück im Grunde stehen bleibt, der wird auch mitgeteilt. Um dahin zu kommen, braucht Büchner schon sechs Szenen. Im Verlauf dessen, was in einem Stück Fabel wäre, treffen sich die Herren nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es Euch aufgefallen ist, [Leonce und Lena] treffen sich gar nicht mehr. Dieses Liebespaar geht einma1 im Garten aneinender vorüber. Das heißt, wir haben es ganz offenbar mit einer Eigentümlichkeit der Büchnerschen Dramaturgie und nicht mit den philosophischen Grundlagen der französischen Revolution zu tun. Das wäre hineininterpretiert, glaube ich. Ich unterbreche immer, aber ich will es immer nicht.

ERIKA PICK
Als ganz dumm, ich bin ja nun in dieser Hinsicht sozusagen nicht von der Literatur, frage ich mich immer nur, warum hat er denn nun ein Drama geschrieben und nicht eine Novelle oder Kurzgeschichte oder lange Geschichte wie "Lenz" ?

HACKS
Warum schreibt er Stücke? Das ist eine kluge Frage. Ich würde sie zu Gunsten von Büchner beantworten, weil wir bestimmt häßlich waren, oder ich bestimmt häßlich war, wenn wir ihm jede auch natürliche Dialektik absprechen. Im Moment, wo ein Mann wie Büchner sich so sehr in zwei Figuren spalten kann, um sich selbst zu verständigen, also um sein Innen in Bewegung zu setzen, ist das eine Art von Dialektik, und ist dafür an sich die dialogische Form, die gegeben ist. Das ist, glaube ich, nicht in Unordnung. Außerdem war ja von der Romantik das nichtdramatische Genre, wie wir ja alle wissen, schon erfunden und konnte schon zu Büchners Zeiten als das ganz besonders Moderne und Kühne gelten. Insofern gebe ich Mittenzwei, wenn er es haben will, wieder recht, wenn jemand so sehr schon Kind des 19. Jahrhunderts war, daß er davon überzeugt war, daß nichts geschieht, schreibt er eben nur Stücke, in denen nichts geschieht und hält das für der Erkenntnis und der ästhetischen Erkenntnis letzten Schluß. So entsteht das, was Kohlhaase beschrieben hat, und was das Stück auf eine gewisse Weise interessant macht. Er sagt, es ist gut geschrieben, aber es ist kein gutes Stück. Das ist etwas, was es anderwärts nicht gibt. Das ist der Fall, der sonst nur noch bei Philologen in der Systematik und in der Wirklichkeit niemals vorkommt, das ist Lesedrama. Ich kenne außer "Dantons Tod" kein Lesedrama.
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aus einem auzugsweisen Vorabdruck in ARGOS 2
das ganze Gespräch in: BD 2 / S. 191 - 229