aus dem Gespräch über sozialistischen Realismus heute
BD 3 / S. 153 - 229

HACKS: Übrigens, denke ich, geht die Frage, wie man Kunst leitet, die Künstler insofern an, als sie sie ja immerhin betrifft. Da sich Künstler zur Kunstpolitik verhalten müssen, müssen sie schon über Kunstpolitik nachdenken.
Also, ich schlage vor, wir betrachten unsere Arbeitsgruppe als einen Sandkasten, worin wir die Probleme sozialistisch-realistischer Kulturpolitik einmal durchspielen. Durchspielen natürlich nicht wie Generalstäbler, sondern wie Kinder.
Um mit einer der wenigen Teilansichten der Sache zu beginnen, die nicht schwierig oder unlösbar ist, beginne ich mit einer einfachen, nämlich der Frage, ob wir den Namen "sozialistischer Realismus" beibehalten wollen, ob wir ihn benutzen sollten oder ob er benutzt werden sollte. Dieses Problem hat ein paar Unterprobleme. Das allgemeinste ist: Braucht ein Stil bei Lebzeiten überhaupt einen Namen? Der Sozialismus hat, seit es ihn gibt, bereits eine Menge Stile hervorgebracht: den vorrevolutionären kritischen Realismus, nach der Oktoberrevolution den linken Modernismus, hiernach den Ideal-Naturalismus der Stalinzeit, hiernach die Neo-Tolstojanisch kunstfeindliche Sektiererei des Bitterfelder Weges.
Alle diese Stile liefen entweder unter keinem bestimmten Namen oder unter selbstgegebenen Namen, die nicht geblieben sind, oder unter einem irreführenden Namen oder auch unter dem Namen des sozialistischen Realismus, den sie aber zu tragen gar nicht verdienten.
Es gibt einige Werke des sozialistischen Realismus, es gibt bisher keine Stilepoche des sozialistischen Realismus.
Aber wie immer, ob ein Stil einen Namen hat oder ob er keinen hat, er entsteht doch. Es gibt eine Menge Stile, die spontan geworden und erst nachträglich benannt worden sind, was weiß ich, der Barockstil oder der elisabethanische. Also ist die Frage gestellt worden, ob unser Stil überhaupt einen Namen braucht. Aber es muß gesagt werden, daß im Gegensatz zu diesen nachträglich benannten Stilen es auch Stile gibt, die als beschlossene Kunstprogramme entstanden sind, die sich kurz nach oder während ihrer Entstehung den Namen gaben und den auch behielten. Das gilt von der Aufklärung, der Romantik, dem Naturalismus, ich glaube auch von der Klassik. Ich weiß nicht das Gesetz, nach welchem manche Stile das Ergebnis eines selbstgesetzten Programms sind und manche Stile halt so entstehen. Wenn es jemand weiß, wäre ich ihm dankbar, wenn er es mir verriete. Aber ich meine, falls einer seine Zwecke kennt, sehe ich nicht den Grund, warum er sie verheimlichen sollte.
Soviel über die Frage, ob er überhaupt einen Namen braucht. Falls er einen Namen braucht, ist es die Frage, ob der Name "sozialistischer Realismus" ein glücklicher ist. Wir sind uns klar darüber: Ein Name ist keine Definition, ein Titel ist kein Inhaltsverzeichnis. Aber das Minimum an Richtigkeit im Namen eines Stils muß sein. Er darf nicht irreführen, er darf nicht falsch sein.
Zu dem zweiten Teil des Namens "sozialistischer Realismus", zum Wort "Realismus", ist gesagt worden, daß Realismus sich von selber verstünde, da jede Kunst die Realität ihrer gesellschaftlichen Verumständung widerspiegele. Es ist wahr, jede Kunst widerspiegelt die Realität. Aber es ist ein Unterschied, ob sie sie freiwillig oder unfreiwillig widerspiegelt, auch ob sie sie richtiger oder weniger richtig widerspiegelt. Das ist wahr, für den nachträglich Untersuchenden gehen auch aus einer weniger richtigen Widerspiegelung die objektiven Tatbestände hervor, aber es ist ein Unterschied, ob es so oder so verläuft.
Es gibt ganz zweifellos Kunst, die nicht im strengen Sinne des Wortes realistisch ist. Es gibt bekanntlich die Abweichung vom Realismus zum Objektiven hin, die bei Goethe einfache Nachahmung heißt. Und es gibt die Abweichung vom Realismus zum Subjektiven hin, die bei Goethe Manier heißt. Es gibt beides auch heute.
Wir treffen in der Literatur der letzten sechzig Jahre sozialistischen Naturalismus, wir treffen sozialistische Romantik. Der gegenwärtige Brauch, diese Abweichungen vom Realismus in den sozialistischen Realismus einzugemeinden, bedeutet meines Erachtens den Verzicht auf jegliche ernsthafte ästhetische Auseinander¬setzung. Wer Realismus will, meine ich, sollte Realismus sagen, und wer Realismus sagt, meine ich, sollte Realismus meinen.
Bleibt also bei diesem semantischen Teil zu untersuchen das Attribut "sozialistisch". Gegen eine solche Zusammenstellung wie "sozialistischer Realismus" spricht nichts, was die Gepflogen¬heiten der Literaturwissenschaft betrifft. Weimann bildet, sagen wir, analog den Begriff Renaissance-Realismus. Die Marxisten sagen für Biedermeier gern Restaurationsstil. Französische Möbel und englische Dramen heißen nach ihren Königen. Wir leiten die Künste von der gesellschaftlichen Basis, auf der sie entstanden sind, ab, und so dürfen und sollten wir sie auch nach ihr nennen, das scheint mir gebräuchlich und scheint mir nicht kunstfremd.
Also gegen den Namen "sozialistischer Realismus" spricht überhaupt nur das Peinliche an ihm. Er erinnert jedermann an schlechte Werke und an schlechte Sitten. Ein solcher Einwand hat schon Gewicht. In vielen Seelen ist gegen den Begriff "sozialistischer Realismus" eine Allergie entstanden. Und jeder Mediziner weiß, daß zu den Leibesschäden, gegen die am schwersten anzukämpfen ist, die Antikörper gehören und was mit ihnen zusammenhängt. Wir bringen Individuen, die unter Umständen guten oder jedenfalls lauen Willens sind, möglicherweise durch Benutzung dieses Namens in eine Abwehrhaltung. Ich sage Ihnen die Gründe, warum ich dennoch für die Beibehaltung dieses belasteten Namens mich erklären würde:
Erstens: Wenn wir uns erinnern, die Namen vieler Stile sind ursprünglich Schimpfnamen. Es sind kränkende Prägungen ihrer Gegner, die eine nachträgliche Aufwertung erkämpft haben.
Insofern können wir sagen, daß auch ein übel beleumundeter Name zu einem Ehrennamen verwandelt werden kann.
Zweitens: Vieles nennt sich unberechtigterweise sozialistisch-realistisch und hat sich so genannt; aber wir können und müssen den sozialistischen Realismus ohnehin gegen das verteidigen, was sich unberechtigterweise so nennt. Auch das ist ja Aufgabe und Problem jeder Kunstrichtung und gar nicht neu. Es gibt einen vulgären sozialistischen Realismus, ebenso wie es ein Trivial-Biedermeier oder einen Kaffeehaus-Expressionismus gibt. Diese Unterscheidung müssen nicht nur wir treffen. Wir können sogar für wahrscheinlich halten, daß der sozialistische Realismus als Praxis bisher nur in Ansätzen existiert und zum breiten Stil erst noch werden soll, vielleicht erst nach verminderter Entfremdung im Sozialismus. Vielleicht ist es so, daß die eigentlichen Aussagen über den sozialistischen Realismus überhaupt vielmehr dessen Zukunft als dessen Vergangenheit betreffen. Ich denke, das ist ein Grund, über die Vergangenheit nicht allzu sehr nachzudenken.
Der dritte Grund aber, der auch dramaturgischerweise mein Hauptgrund ist: Zugeständnisse an irgend etwas, an Feindseligkeit oder an Vorbehalte oder an Allergien, Zugeständnisse sind etwas ganz Wichtiges in der Politik; aber ich denke, sie sind in der Kunst selten eine Lösung. Wenn wir uns entschließen sollten, den befleckten Ruf dieses Namens zu reinigen, dann verraten wir Kraft, ein im Grunde gutes Gewissen, und wir verraten einen offensiven Geist. Einer, der sich seiner selbst nicht schämt, schämt sich auch der Untaten nicht, die er in seiner Kindheit begangen hat. Ich würde soweit gehen, zu sagen, wenn das ganze Unternehmen „sozialistischer Realismus“ sich als ein Irrtum erweisen sollte, ist es für den Sozialismus besser, seine eigenen Fehler zu machen und sich zu ihnen zu bekennen, als seine Identität zu verlieren. Es gehört übrigens zum Wesen der Kunst, ärgerlich zu sein. [...]

KOHLHAASE: Wenn ich ein praktisches Kriterium für Kunstpolitik suche, will ich mal aufwerfen: Talent. Du hast ein paar Begriffe dafür geliefert, also der Dichter, Begabung und so, wie immer man es nennen will, es ist nicht richtig aufgeklärt, eins ist sicher: die Summe - Talente sind nur in einer begrenzten Zahl da. Es gibt in einem bestimmten Moment nicht beliebig viele. Es gibt sicherlich historische und soziale Momente, wo sie ganz dicht sind auf kleinem Raum, aber es gibt ja zu diesem Talent einen merkwürdig unaufgeklärten Grundansatz, den du eben nach dem Verfahren der Broilerproduktion nicht recht in den Griff kriegst.

ABUSCH: Manche setzen sich trotz allem durch.

KOHLHAASE: Manche setzen sich durch. Jetzt würde ich dennoch sagen: Ein praktisches Kriterium für Kunstpolitik ist, ob du die Mehrzahl der Talente, die dieser Kunstpolitik unterzogen werden, produktiv machst. Das schließt überhaupt nicht aus, daß es mit einem sehr großen und begabten Mann einen unlösbaren politischen Konflikt geben kann, das hat es immer gegeben, das ist schmerzlich. Das ist dann ein politischer Konflikt wie zwischen jedem anderen, da nimmt kein Mensch mit einem Talent eine Sonderstellung ein. Aber im Prinzip sind die Talente ja doch dem Humanen zugewandt, dem menschlichen Fortschritt a priori nicht abgeneigt und wollen sich in menschlicher Gesellschaft betätigen.

ABUSCH: Das ist schon wieder eine eigene Diskussion, nach den Erfahrungen von Jahrzehnten.

KOHLHAASE: Ich rede aber von heute, ich rede von der Situation, wo der Sozialismus die Macht hat. Ein Nebengedanke: Ich bin auch nicht der Ansicht mit den sich unendlich komplizierenden Fragen, weil damit ganz viel Mystik getrieben wird, obgleich mir scheint, daß die Anzahl der Fragen, die Summe der zu bedenkenden Dinge in dem Maße, wo der Sozialismus eine ganze Gesellschaft zu verwalten hat, von der Kaffeesahne bis zur Operntheorie, natürlich wächst.

WIEDE: Mit der Macht?

KOHLHAASE: Mit der Macht, natürlich. Das heißt nicht, daß es komplizierter sein muß. Ich teile ja auch nicht mal, daß die enorme Gefährdung der Menschheit als Gattung etwas grundsätzlich anderes erzeugt, weil ich glaube, daß beispielsweise die Verbrennung Magdeburgs durch Tilly oder der Untergang Roms im Jahre dreihundert soundso, genauso unvorstellbare Zusammenbrüche von Wert - also ich meine Rom mehr als Magdeburg -, Zusammenbrüche von Weltsystemen, von vorstellbarer Ordnung und von Sitte und Moral waren. Insofern ist menschliches Denken und Kunst mit solchen Phänomenen, glaube ich, ähnlicher, weil es sichtbar immer schon vertraut gewesen ist. Auch das, finde ich, ist es nicht. Was die Talente betrifft - um sie produktiv zu machen, das berührt auch die Frage des Nachwuchses, weil Nachwuchs sich ja auch nicht nach der Theorie entwickelt oder an sich, sondern in bezug auf die stattfindende Kunstleistung in einem Land. Nachwuchs ist viel stärker sinnlich zu erreichen als auf irgendeine andere Weise. Da kommen wir dann schon auf so eine Frage, daß es wichtig ist, daß die vorhandenen Talente maximal arbeiten, das muß die Gesellschaft gewährleisten. Das schließt überhaupt nicht aus, daß die Gesellschaft eine Kunstvorstellung hat, daß sie Realismus, die Dialektik von Realität und Ideal, daß sie alle diese Dinge als Kunstbegriff nimmt.
Und gleichzeitig - Peter hat das auch angedeutet - muß natürlich diese Kunstkonzeption offen sein für Entdeckungen, die an dem immer neu entstehenden Material, mit dem Kunst zu tun hat, zu machen sind. Wenn ich nicht für möglich halten würde, daß irgend etwas hinzukommen kann zu einer Konzeption, daß etwas, was richtig ist, ergänzt werden kann, daß zu einem scheinbar schlüssigen Beweis ein Gegenbeweis geliefert wird, also daß Bewegung stattfindet, dann würde ich wichtige Bewegungen blockieren.
Du hast gesagt: Gute Kunst hat immer irgendwo recht. Das ist natürlich richtig, weil ja der Begriff des Richtigen als philosophische oder historische Kategorie nicht alle Fragen berührt, die mit Kunst zu tun haben - abgesehen davon, daß man von falschen Ausgangspunkten richtig denken kann. Also, wenn du so willst, das gesamte ptolemäische Weltsystem hat auf einer grundfalschen Ausgangsposition hervorragende Beobachtungen gemacht, die alle stimmen, die Bewegung der Gestirne, und eines Tages... Ich komme jetzt zu keinem Schluß. Ich bin ja nicht zu systematischem Denken veranlaßt wie unsere theoretischen Kollegen. Und mir fällt etwas scheinbar Österreichisches ein: Wenn es so etwas gibt wie eine Kunstkonzeption, und wenn du sagst, Peter, man kann Leute, wie sich erwiesen hat, nicht zwingen, so muß man sie gewinnen. Wenn man sie nicht zwingen kann, muß man sie gewinnen. Gewinnen muß man sie durch Beispiel. Wichtig ist natürlich, daß die Gesellschaft eine Idee hat, mit welchen Kunstwerken sie wie umgeht, also daß sie die Diskussion nicht so sehr am Material führt, sondern an den Resultaten, die erst mal eintreten müssen. Dann kann man ja immer noch verwerfen oder bewerten. Das halte ich für ganz richtig.
Und mit "österreichisch" meinte ich, wenn man eine neunzigprozentig richtige Sache hundertprozentig durchführt, dann kann sehr viel Schaden entstehen. Die Geschichte des Menschlichen im Verwaltungsleben besteht nur aus solchen Vorgängen. Man hat annähernde Ideen, und die Logik des Verwaltens bringt es mit sich, daß man sie hundertprozentig durchführt. Und es entsteht dann immer Nutzen, aber natürlich auch sehr viel Schaden.
Man muß bestimmte Gebiete auf ihre jeweils spezifische Weise leiten, Militär anders als die Industrie und anders als die Landwirtschaft. Was die notwendige gesellschaftliche Leitung künstlerischer Prozesse betrifft - das sage ich jetzt wirklich als Betroffener und Beteiligter und als Mitdenkender, also nicht als Klagender -, operieren wir mehr mit Ahnungen als mit gesicherten Begriffen. Ich glaube, das ganze Feld, wie man das machen kann, wie man eine Sache sozusagen richtig orien¬tiert und ihr trotzdem den Raum zur Spekulation läßt, den sie braucht, weil sie sich sonst nicht entwickeln wird, hat wenig Praktikables. Du hast das sehr genau beschrieben, und man kann da beliebige Beispiele aus der Praxis sagen. Da ist zum Beispiel eine Haltung bei Genossen: Wo der Idealismus anfängt, da spricht die Hilflosigkeit.
Ich habe nie, auch bei den größten Problemen in der Landwirtschaft, die es gab, oder in der Industrie, einen Genossen getroffen in verantwortlicher Stellung, der mir etwa gesagt hätte direkt oder indirekt: Wir haben Pech mit unseren Bauern, oder wir haben Pech mit unseren Arbeitern. Nein, sondern die Lage der Bauern ist die Lage der Bauern, und man muß mit ihnen politisch arbeiten und zu bestimmten Zielen kommen, da kann man nicht Glück oder Pech haben.
Aber die unausgesprochene oder ausgesprochene Haltung: Wißt ihr, wir haben eigentlich Pech mit unseren Schriftstellern,
Heiterkeit
wir haben Pech mit unseren Künstlern...
Kurzes Durcheinandersprechen
 ...nein, entschuldigt, das habe ich im Ohr bei vielen Gelegenheiten, und das artikuliert ja nichts anderes als eine Ratlosigkeit, im Prinzip - was heißt Pech? Die Künstler und Schriftsteller...

ABUSCH: Das habe ich noch nie gehört!

KOHLHAASE: Ich habe es schon oft gehört; ich habe es allerdings nicht auf Konferenzen gehört.
Heiterkeit
Aber sonst sehr oft.

ABUSCH: Wir haben viele sehr gute Schriftsteller, trotz allem!
Heiterkeit
Das habe ich jetzt bewußt hinzugefügt.

HARICH: Wir sind ja auch unbesiegbar!

ABUSCH: Außerdem, in den 20er und 30er Jahren - entschuldigt, ein Satz noch - war doch gar nicht alles so einfach, wie man sich das vorstellt, sondern das war auch sehr kompliziert.

HARICH: Viel einfacher!

ABUSCH: Einerseits einfacher, andererseits war die Dialektik eine viel härtere in der Entwicklung.

HARICH: Die Frage um Tod oder Leben ist immer einfach, aber die Frage, w i e leben, so leben oder so leben oder so, ist kompliziert.