Vergnügter lernen war nie

Von 1988 bis 1990 gibt Peter Hacks in der Sektion Literatur der Akademie der Künste der DDR einen workshop, "Geschwindkurs" nennt er das, für Nachwuchsdramatiker unter dem Gustav-Freytag-Titel "Technik des Dramas". "Was wir betreiben wollen, ist praktische Futurologie", stellt er das Projekt in der Sitzung der Sektion vom 11.4.1988 vor. Es gebe eine Menge junge Leute, die etwas wie Stücke schrieben, Texte jedenfalls, die sie selbstbewußt dramatische nennen. Er sieht sie einer tiefen Krise des Theaters, doch eigentlich die natürliche Ausbildungsstätte für Dramatiker, gegenüber, in der sie nicht gespielt würden - die Bühnen der DDR können auch Ende der achtziger Jahre auf international verglichen hohe Uraufführungszahlen verweisen -, obwohl sie den Regisseuren und deren konsequentem Zerstörungswerk an vorgefundenen dramatischen Strukturen mit ihren Arbeiten doch entgegenkämen.

"Es handelt sich ein bißchen um Abc-Unterricht, und es handelt sich darum, die Kinder von der Straße zu holen..." Wegen der gewöhnlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Generationen, sicher aber auch im Bewußtsein, mit den eigenen künstlerischen und politischen Haltungen nicht Tagesmode zu sein, wählt er „das Technische, das Handwerkliche an der Sache ... als die Verständigungsebene, die zwar die niedrigste ist, aber die unter Umständen eine Verständigung überhaupt erlaubt.“ Gefragt soll nach den klassischen, den gültigen Kunstregeln und geantwortet nach der Erfahrung werden: Was ist eine Eröffnung, was eine Fabel, ein Held, ein Gegenspiel, ein Pausenschluß? Die gemeinsame Arbeit soll zutage bringen, wie die einzelnen Zeitalter, wie unterschiedliche gesellschaftliche und ästhetische Bewußtseinshöhen diese Fragen jeweils produktiv in Drama umgesetzt haben. Deduktiv - induktiv die Methode, die Hacks für seine Arbeitsgemeinschaft entwirft.

Teilnehmen, das ist Akademietradition, kann jedes Mitglied. Da die Gruppe eine arbeitende und mithin klein sein soll, schlägt er vor, nur Vertreter der eigenen Sektion, und unter denen nur die, die als Dramatiker praktizieren, hereinzunehmen. Die mitmachen wollen, sollen auch die Nachwuchskandidaten auswählen, und Hacks erwägt, "ob man Katarina Witt einladen sollte. Aber das muß man in einem wirklichen Zusammenhang überlegen... Wir haben in Katarina Witt eine ganz unbestreitbare Weltfigur, eine Person neben Gandhi oder Einstein, die eine Staatsbürgerin der DDR ist. Diese Frau wünscht das Schauspiel zu erlernen, was sicherlich gute Chancen hat, denn einen Teil dessen, was ein Schauspieler können muß, kann sie bereits jetzt und unbezweifelbar... Die Ökonomie der Nation erfordert, daß man aus ihr nicht eine, sondern eine ebensogute Schauspielerin macht, wie sie bisher eine Schlittschuhläuferin gewesen ist. Ich meine, man sollte der Regierung die Größe und die Schwierigkeit dieser Aufgabe klarmachen. Denn was einer Regierung einfällt in solchen Dingen, ist, daß man sie zweimal auf die Schauspielschule schickt und dann einen Schlittschuhläuferfilm dreht, und dann ist das bisherige Weltwunder beim übrigen Abfall gelandet. Ich denke, hier lohnte sich der Versuch einer Ausbildung durch die besten Leute, die wir haben.“ - Schließlich, "damit nicht nur Greise mit Kindern beieinandersitzen“, sollen auch Gäste mittleren Alters eingeladen werden.

Den Sommer über liest Hacks Stücke junger Autoren sonder Zahl, detaillierte Aufzeichnungen in seinem Nachlaß legen davon Zeugnis ab. Und er läßt Ronald M. Schernikau einladen, den jungen Westberliner Schriftsteller, der zu dieser Zeit am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig studiert, mit dem er befreundet ist und dessen Stück "die schönheit", eine Spionagefarce in Stanzen, ihn, 1987 in der Aufführung eines Tuntenensembles in Westberlin, amüsiert hat. „ich freue mich sehr, ich freue mich immer über schöne arbeit, ich bin gespannt, ich stehe zur verfügung“, antwortet der.

Zur 1. Sitzung im Präsidiumszimmer der Akademie treffen sich im November 1988 neben Hacks die Mitglieder der Sektion Waldtraut Lewin, Helmut Baierl und Wolfgang Kohlhaase, als Dramatiker mittleren Alters Christoph Hein, Lothar Trolle und Jochen Berg und neben Schernikau die jungen Autoren Werner Buhss, Peter Dehler, in einer Nachwuchsveranstaltung im Frühjahr von Karl Mickel an der Akademie schon vorgestellt, Jörg Michael Koerbl, den Heiner Müller während der 2. Werkstattwoche Junge Kunst der AdK präsentiert, Stefan Schmidt, Michael Sobe und Jens Sparschuh, Anna-Seghers-Stipendiat des Jahres 1988. - Katarina Witt, 1984 und 1988 DDR-, Europa-, Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Eiskunstlauf, beginnt 1988 ihre Profikarriere. 1989 dreht sie den Spielfilm „Carmen on Ice“.

Dem Eröffnungsabend, der der exakten Gegenstandsbestimmung gewidmet ist, folgen in den Winterhalbjahren 88/89 und 89/90 acht weitere, jeweils zu Teilaspekten. Wie differenziert Hacks aufbaut, sei am Beispiel Exposition hier kurz gezeigt. Das Thema der 2. Sitzung lautet „Über exponierende Soliloquien“ anhand von Dramen der griechischen und französischen Klassik, von Shakespeare, Wedekind und Brecht. Was heißt erfolgreich exponieren? Wie muß Exposition beschaffen sein, damit aus Leuten, die eine Theaterkarte erworben haben und somit in Vorleistung gegangen sind, überhaupt ein Publikum sich bildet, das bis zum Ende dableibt? Zur Überprüfung dienen Eröffnungsmonologe als sozusagen nackte Form der Exposition: Einer kommt auf die Bühne und sagt, was Sache ist, was sein wird; Exposition durch Mitteilung. – Aber was exponiert man eigentlich?

Also sind die nächsten Abende den mehr abstrakten Themen „Welche Stoffe sind dramatisch?, oder: Was das Publikum im Theater gern hat (Konflikt und / oder Kollision, Blindheit und Intrige)“ und „Die Entstehung der Fabel aus dem Fassungsvermögen des Zuschauergehirns“ verpflichtet, ehe die 5. Sitzung nach der mitgeteilten die handelnde Exposition einführt. Shakespeare, der die Eröffnung beider Fabeln seines „Lear“ sozusagen mit einem Handstreich in der 1. Szene erledigt, und Schiller, der die Wallenstein-Trilogie bis in die 1. Szene von "Die Piccolomini" durch Handlung exponiert, sind hier Beispiele von Dramatikern, die mehr bieten als Exposition muß, nämlich eigenständige Schönheit, Kunst, denn es gilt das Paradox: Exposition muß nicht gut sein, sie muß als Exposition gut sein.

Abende zu Gesellschaftlichem auf dem Theater am Beispiel von Shakespeare’s „Kaufmann von Venedig“ folgen, über Probleme des 2. und 4. Akts und über Szene und Dialog. Den Schlußpunkt nach Plan, ein ziemlich umfassender, immer hoch konzentrierter Abriß ist gegeben, setzt das Gespräch über Personenzettel, Charaktere, Rolle anhand Shakespeare’s "Hamlet" und Dumas’ "Kameliendame". Es ist der 7. Mai 1990.

Wenn hier Kinder von der Straße geholt worden sind, aber es sind Kollegen, die ernst genommen werden. Hacks braucht ihre Widersprüche und widerspricht ihnen sachlich scharf, das präzisiert Ergebnisse. Weggewischt wird nur, was nicht Thema ist, Psychologie etwa, Ethik. Unmittelbar durchlebte Zeitgeschichte fließt selbstverständlich in den Gegenstand, so, wenn Hacks für Lear Gorbatschow sagt, Lear, der seine Länder wegschenkt, ohne wenigstens eine Milliarde einzubehalten.

Bei allem sitzt die DDR-Meisterin in Stenografie. Was sie wörtlich festhält, damit das Erarbeitete dasteht zu fernerer Arbeit, ist, aber lesen Sie selbst, Anregung auf Weltniveau.


WAS HEISST UND ZU WELCHEM ENDE STUDIEREN WIR DRAMATURGIE

Leseprobe aus dem Protokoll der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe "Technik des Dramas",

Akademie der Künste der DDR, 10. November 1988

PETER HACKS: Die Geräusche, die sich gebildet haben - aus Personen, die sich zurechtrücken, Personen, die ein Gespräch zu Ende führen, Personen, die noch husten -, führen uns auf einen der vielen Sätze, auf die wir im Verlauf unserer Arbeit kommen werden; er lautet: Wenn Sie ein Theaterstück schreiben, tun Sie nie eine unverzichtbare Information in den ersten Stücksatz, sie wird wahrscheinlich nicht gehört werden.

Sie sehen, daß wir versuchen, praktisch zu sein. Trotzdem komme ich um ein paar allgemeine einführende Worte nicht herum, weil es, über die Unklarheit, die über dieses Projekt ohnehin bestehen muß, hinaus, sicher noch ein paar Unklarheiten gibt, die behebbar sind. Was unsere Zahl und Menge betrifft: Es sind einige ehrenwerte Personen durch höhere Gewalt entschuldigt - Waldtraut Lewin, Helmut Baierl, Christoph Hein und Jochen Berg -; es sind ein paar Personen aus ungeklärten Gründen noch nicht da oder kommen gar nicht.

Ich habe schon geschrieben, daß ich vermeiden will und ganz zweifellos auch nicht in der Lage bin, Ihnen die Technik des Dramas einzuflößen. Ich bin kein Nürnberger Trichter. Ich betrachte uns alle, um im barocken Bild zu bleiben, als eine fruchtbringende Gesellschaft. Unter uns ist, glaube ich, niemand, der nicht schon aufgeführt worden wäre. Aber natürlich haben wir Dramatiker von großer Erfahrung, und wir haben minder erfahrene, und einige von ihnen hatten ein paar sehr ehrenvolle Skrupel angemeldet, nämlich sie haben gesagt, sie wüßten nicht, wieviel sie zu der Sache eigentlich beizutragen hätten. Meine Antwort darauf ist: Niemand kann Dramaturgie, niemand hat jemals Dramaturgie gekonnt; Dramaturgie ist ein wissenschaftlicher Gegenstand, über den niemand alles weiß. Denn das läßt sich nachprüfen: Es gibt aber auch nicht ein vollkommenes Theaterstück. Es gibt natürlich Stücke, die wir gewohnt sind als vollkommen zu bezeichnen: „Ödipus“ oder „Antigone“ oder „Cid“ oder den „Britannicus“ oder „Sturm“ von Shakespeare oder den „Prinzen von Homburg“ oder den „Wallenstein“ oder den „Arzt am Scheideweg“. Aber das tun wir natürlich nur, weil wir voraussetzen, daß dramaturgische Vollkommenheit eine Sache ist, die man immer nur in Annäherungen erreicht. Selbstverständlich hat jedes auch dieser allerbesten Stücke leicht nachweisbare Fehler. Ich weiß natürlich auch: Es ist ein Unterschied, ob man eine Wissenschaft im Kopf kann oder das, was die Wissenschaft verlangt, auch machen kann. Es ist natürlich schwerer, ein vollkommenes Stück zu schreiben, als vollkommene Nachrichten über Dramaturgie zu haben. Aber andererseits heißt, man ist im vollkommenen Besitz der Dramaturgie, ja wiederum auch, daß man in der Lage ist, die Sache in einem Kunstwerk durchzuführen und zu verwirklichen.

Was ich also sagen will, ist: Wir sind in der Sache alle nur mehr oder weniger dumm, und eigentlich kann jeder jedem helfen. Wir haben uns vorgenommen, die Sache nicht rein abstrakt und rein vom Begriff abgeleitet zu deduzieren, sondern wir haben uns vorgenommen herauszufinden, wie es in der Geschichte der Dramatik gemacht worden ist. Da will ich versuchen, mit nicht allzu vielen Beispielen auszukommen, aber Beispiele werden bleiben.

Nun gibt es ein anderes Gesetz. So wenig, wie jemand im Besitz der gesamten Wissenschaft der Dramaturgie ist, so wenig gibt es jemanden (mit einer einzigen Ausnahme, das ist Gerhard Piens), der alle Stücke kennt, die es gibt. Außer daß man sie nicht alle lesen kann, ist auch der folgende Umstand nachteilig: Man kann sich Stücke nicht merken. Ein Theaterstück ist eine Sache von einer so reichen und in sich so komplizierten Totalität, daß es praktisch unmöglich ist, es als ganzes vor Augen zu haben. Und die, die man kennt, hat man, stellt man fest, in vier Wochen wieder vergessen. Ich glaube, der einzige Fall, wo von einem Menschen gesagt werden kann, er kennt ein Theaterstück ganz und gar, ist, wenn man von dem redet, das der Mensch gerade zu schreiben im Begriff ist, und das in seinen besten Stunden. Dann kann man sagen, der Junge weiß, wovon er redet. Andernfalls: Man kennt sie nicht, man kann sie sich nicht merken.

Ich sage diese allgemeine Tatsache deswegen, weil, wenn hier jemand Beispiele bringt und sagt, ich meine, das sollte man machen wie im Pausenschluß von dem Stück oder wie jene Rolle in dem Stück, er dann bitte grundsätzlich so tun soll, als wisse niemand anders am Tisch irgend etwas über Theaterstücke, und soll erzählen, wovon er redet. Wir wollen also versuchen, bei den Kollegen und Teilnehmern nicht alles vorauszusetzen und nicht alles zu erwarten, wobei natürlich die Kenntnis der Weltdramatik für einen Dramatiker zum Geschäft gehört. Ich will hier keiner Faulheit das Wort reden.

Technik des Dramas - wir wollen versuchen, sie selber herauszufinden. Aber ich will nicht so tun, als hätte ich nie in meinem Leben ein Buch gelesen. Kein Teilnehmer hier ist aufgefordert oder gehalten, Lehrbücher der Dramaturgie gelesen zu haben. Ich will aber mitteilen, was ich kenne und worauf ich mich beziehe in meinem theoretischen Thesaurus; Sie sollen es einfach wissen. Es ist "Die Poetik" von Aristoteles, es ist "Die Ästhetik" von Hegel, es ist "Die Technik des Dramas" von Gustav Freytag, von dem ich den Titel übernommen habe, ohne mich zu schämen. Gustav Freytag stand - ich weiß nicht, ob es die Anfangsjahre unserer Republik oder ob es die Hochzeit des Brechtianismus war - in einem sehr schlechten Ruf. Ich möchte hiermit zur Kenntnis geben und zu Protokoll bringen, daß ich diesen Ruf für unverdient halte. Ich halte es für ein ganz ausgezeichnetes Buch. Und viertens haben wir Grundlegendstes und praktisch Anwendbarstes bei Lukács, vornehmlich im zweiten Kapitel von "Der historische Roman". Das ist eigentlich das, was ich kenne, außer dem, was mir in meinem Leben untergekommen ist, was ich vergessen haben mag, und dem, was ich so denke. Auch das habe ich versucht mitzuteilen.

Wir sind hier, was ästhetische Meinungen betrifft, neutral. "Wir" meine ich als Arbeitsgruppe. Jeder einzelne ist ohne Zweifel hochparteilich, aber ich glaube, die Technik des Dramas als solche ist ästhetisch neutral. Ein Drama kann so parteilich sein, wie es will, ein Drama kann Menschheitsziele verkünden oder Geschmacksurteile enthalten, soviel es will, insofern es ein Drama ist, muß es funktionieren. Und über das am Drama, was bewirkt, daß es funktioniert, haben wir zu reden vor.

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Auszug aus dem Vorabdruck in SINN UND FORM 5/07
mit freundlicher Genehmigung: SINN UND FORM

Leseprobe aus dem Gespräch am 1.2.1990

Das Thema des Gesprächs lautete: Dramaturgie der Kämpfe, oder Steigerung der Handlung von Spiel und Gegenspiel – Die zweiten und vierten Akte in der „Maria Stuart" und im „Prinz von Homburg“. Außer den im Auszug vertretenen Diskutanten nahmen auch Waldtraut Lewin und Christoph Hein am Gespräch teil. Die Einführungsvorträge hielten Waldtraut Lewin zu „Maria Stuart“ und Stefan Schmidt zu „Prinz von Homburg“.

Peter H a c k s:
Ich gebe zu, daß, wenn wir von heute reden, die Kämpfe außerordentlich schwer zu durchschauen sind. Wer diesen Fahrplan, nach dem wir fahren, schreibt, ist nicht hundertprozentig festzustellen. - Ob Westdeutschland eine eigene Position gegenüber Rußland und Amerika hat, kann man nicht hundertprozentig sagen. - Sie spielen sich auch in wahnsinniger Weise verdeckt ab, was für die Bühne ganz ungünstig ist. Wer will sich herausnehmen, die Geheimkabinette, wo Herr Brzezynski Herrn Bush Ratschläge gibt, auf die Bühne zu bringen? Das alles ist furchtbar schwer. Trotzdem meine ich: Wir sehen das Ergebnis von Kämpfen, wir sehen Honecker im Kellerloch.

Stefan S c h m i d t:
Das ist tatsächlich ein Ergebnis von Kampf, aber das müßte wieder anders definiert sein. Im ND standen Berichte über die Anhörungen von Hager, Sindermann und Herrmann. Der Abschlußsatz von Sindermann war geradezu köstlich, wo die Begründung dafür, daß Honecker abgesetzt wurde, war, „weil er Grobatschow beleidigt hat“. Das war der Punkt, wo man wirklich ein Drama daraus machen könnte, wo jemand abgesetzt wird aus einem falschen Grund und wo auch Sindermann die Rache ereilt. Und die Wirklichkeit ist, so wie es in Frankreich war mit der Guillotine, daß die, die heute jemanden hingerichtet hatten, am nächsten Tag selber hingerichtet wurden. Heute richten sie Honecker, am nächsten Tag werden sie selber abgesetzt. Das ist der Drehpunkt, der mich interessieren würde. Aber wahrscheinlich interessiert es schon morgen keinen mehr.

H a c k s:
Wenn wir ausgehen von dem französischen Gesetz, die Revolution frißt ihre Kinder, so sind ja ein paar Dramen gewonnen worden, nicht sehr viele.

Michael S o b e:
„Dantons Tod“.

H a c k s:
Falls es ein Drama ist.

S o b e:
Da zeigt sich schon die Schwierigkeit. Aber in der Neuheit seinerzeit ist dies noch am besten gelöst.

Jens S p a r s c h u h:
Ich will zu der allgemeinen Struktur mit den Helfern zurückkommen. Ich glaube, Anlässe für Tragisches und Komisches bieten die Helfer, wenn man das nicht ganz als Zweifrontenkrieg macht, sondern so, daß jemand aus Versehen oder aus eigenem Gesetz zum Helfer der anderen Seite wird. – Ich überlege die ganze Zeit Beispiele. – Das kann die Sache beleben und kann auch Konflikte, die vielleicht nicht in Staatsaktionen münden, eher darstellbar machen, wenn man aus Versehen Helfer der Gegenseite wird.

H a c k s:
Erreichen, was man zu erreichen nicht vorhatte, ist eine klassische Theatersituation.

Wolfgang K o h l h a a s e:
Wir hatten auch einmal die Blindheit des Helden, die entweder gesetzt ist oder herbeigeführt wird. Ich lese gerade ein Buch von Barbara Tuchman, das heißt „Die Torheit der Regierenden“. Sie untersucht an Präzedenzfällen, angefangen mit dem Trojanischen Pferd, wo Regierende, trotz des Vorliegens von Alternativen, ihren eigenen Schaden bewirken. Sie untersucht das an dem mythologischen Beispiel und am Beispiel der Renaissance-Päpste, wo klar ist, diese Kirche braucht ein Konzil, jeder sagt es, und eine bestimmte Konstellation führt dazu, daß hundert Jahre vergehen – es kommt nicht zu dem Konzil. Dann untersucht sie es am Beispiel der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von England, wo die englische Aristokratie, um eine bestimmte Steuer in Amerika einzutreiben, aus dem Auge verliert, daß sie auf diese Art und Weise Amerika verliert. Es wäre aber in ihrem Interesse gewesen, Amerika zu behalten.

H a c k s:
Das sind Beispiele von Fehlern, die Leute machen, und zwar von unbegreiflich groben Fehlern, aber es sind keine Verwicklungen. Eine Verwicklung ist, wenn ein Mensch sagt: Wenn im Kaukasus eine separatistische Bewegung ausbricht, muß man ihnen nur mehr Freiheit geben, dann hört das auf. Herr Jelzin sagt das. Wenn ihnen Herr Jelzin mehr Freiheit gibt, damit das aufhört, und sie sind plötzlich ein Teil der Türkei, dann war das ein Mittel, das seinen Zweck vernichtet. Da wird es eigentümlich dramatisch, wenn du etwas machst, um etwas zu erreichen, und erreichst das Gegenteil.

S o b e:
Das ist klassisch. Da kommt immer wieder der Mensch, der mit seinem Schicksal ringt, dem er letztlich nicht entgehen kann.

H a c k s:
Das ist antike Klassik.

S o b e:
Dahin kann man auch nicht kommen, weil wir das auch schon alles hatten. Es muß also noch etwas anderes sein.

H a c k s:
Die Frage von neu oder nicht neu interessiert mich in der Kunst absolut nicht. Die einzige Frage ist: Was ist wahr? Das versuchte ich jetzt zur Diskussion zu stellen. Das Drama benimmt sich seit einer Zeit, als gäbe es keine Kämpfe mehr, und falls es sie gibt, sind sie lächerlich und sinnlos. Wo ist der Punkt, der die Politik unserer Zeit wesensmäßig anders macht, als sie zur Zeit von Kleist und Schiller war? Was ist neu?

Ausschnitt eines Vorabdrucks in THEATER DER ZEIT 5/08